Verband der Deutschen Möbelindustrie e.V. (VDM)
Der moderne Biedermeier und seine Retro-Möbel
Zu viel Schnelligkeit führt beim Wohnen zu Altbewährtem12.08.2015
Bad Honnef. Es ist ziemlich genau 200 Jahre her, dass in Deutschland und Teilen Europas die Zeit des Biedermeier begann. Vorangetrieben in den damaligen Metropolen Hamburg, Berlin, Wien und München setzte sich eine Bewegung in Gang, die ganz bewusst den Rückzug in die Häuslichkeit lebte. Auf politische Wirrungen und Unsicherheiten, aber auch die beginnende Industrialisierung reagierten die Menschen mit einem Rückzug in die eigenen vier Wände. Heute führen Globalisierung, digitales Ausspionieren, politische Unsicherheiten, Kriege und Flüchtlingsmigrationen auch zu Verdrossenheit und zur Flucht in das Bewährte und Kontrollierbare. Der Rückzug in das private Zuhause, das sogenannte Homing, hat seinen Schwerpunkt im modernen Biedermeier gefunden. „Kein Wunder, denn in unserer Zeit überholt sich alles und jeder ständig selbst. Updates nerven und Schnelligkeit verliert an Attraktivität, denn die Menschen sehen ein, dass sie Ruhe und einen Rückzugsort brauchen“, sagt Dirk-Uwe Klaas, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie.
Viele kulturelle Grundsätze und Werte sind heute vergleichbar mit denen des Biedermeier. Typische Ausprägungen waren neben dem Rückzug ins Zuhause mit seiner inszenierten Dekoration von Zimmern zum Beispiel die Vorliebe für den „Ausflug ins Grüne“, die Erfindung des Tanz- und Literaturcafés, ein ausgiebiger Alkoholkonsum, ein Faible für Handarbeit, das Aufkommen von Kammermusik im vertrauten Kreis, oder auch die Beliebtheit der Komödie. Beim Interieur wurden einfache, funktionale Möbel mit klaren Linien, in perfekter Gestaltung und vorzugsweise aus lokalen Materialien favorisiert. All diese Merkmale können unsere aktuellen gesellschaftlichen Lebens- und Wohntrends sehr gut beschreiben. Überall sind Parallelen: Das Heimkino ersetzt dabei die Kammermusik, das SpeedDating ersetzen das Tanzcafé, weltverbessernde Komödianten sind auf allen Fernsehprogrammen, das Pimpen mit „grünen“ Materialien sowie die Beliebtheit des Schrebergartens gehören heute zum Alltag.
Aktuelle Möbelentwürfe sind schlicht und sehr auf ihre Funktion reduziert. So ist etwa der im Biedermeier erfundene Sekretär ein Bestseller. Er vereint eine gute Optik mit platzsparenden Eigenschaften und erfüllt dabei alle Funktionen, denen ein Arbeitsplatz im eigenen Zuhause genügen muss. Er hat heute oft eingebaute Stromanschlüsse für Licht und Laptop und ist in vielen Farben und Materialien erhältlich. Darüber hinaus gibt es im aktuellen Einrichtungs- und Möbelangebot sehr viele Entwürfe mit reichlich Nostalgiecharakter. Solche Möbel und Accessoires erinnern optisch an vergangene Zeiten. Nostalgie ist heute deshalb so beliebt, weil sie große Sicherheit gibt. Die Entwürfe geben uns Halt und vor allem Zeitbezug. Das genau in einer Zeit, in der sich alles und jeder ständig selbst überholt, in der die Beschleunigung des Alltags zu nerven beginnt. An die Retrospektive angelehntes Design hat immer dann Konjunktur, wenn Unsicherheiten zunehmen. Denn Retro-Design nimmt uns die Angst vor Geschwindigkeit, ist verlässlich wie ein guter alter Freund. Ob Gartenmöbel, Betten, Schränke oder Sessel: In allen Möbelbereichen sind alt-bekannte Entwurfsqualitäten wiederzufinden. Vielleicht will auch kein neuer Stil so recht in die Gegenwart passen.
Es vollzieht sich ein leiser Wandel in den Lebenswelten, in den sozialen Beziehungen und im Alltag. Die neuen Biedermeiers - so beschreiben es die Forscher - leben politisch oft einen „schwarz-grünen“ Zeitgeist mit Patchworkfamilie, Dreitagebart, schicker Wohnung und Bio-Essen. Mit dabei: ein moderner Opa-Ohrensessel als Seelentröster.
Foto 1: Klassiker kommen zurück: Der Ohrensessel ist wieder ein modernes Möbelstück. Foto: Bielefelder Werkstätten/VDM.
Foto 2: Filigrane Gartenmöbel erinnern an die aufkommende Leichtigkeit der 1950er Jahre. Foto: Richard Lampert/VDM.